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New Work - eine Utopie in der Medizin oder die Lösung für das Arbeitsmarktproblem?

Die Personalsituation in Kliniken und medizinischen Einrichtungen sind teilweise dramatisch: es fehlen Ärzte und Pflegekräfte. Kann New Work eine Lösung für dieses Problem sein?

 

"New Work" symbolisiert eine moderne Arbeitskultur, die auf Selbstbestimmung, Flexibilität und Sinnhaftigkeit setzt. Es steht für eine andere Kultur der Arbeit. Ist das für die Medizin realistisch mit der Arbeit am Patienten vor Ort? Wir denken, dass viele Prinzipien von New Work auch in der Medizin genutzt werden können. Der Beitrag betrachtet die Ursprünge und nennt Beispiele aus der Medizin.

 

Ein kurzer Ausflug in die Geschichte

Zwei Autoren haben für mich den Begriff „New Work“ wesentlich geprägt: Frithjof Bergmann und Frederic Laloux.

Der österreichisch-amerikanische Philosoph Frithjof Bergmann sah die klassische Lohnarbeit als eine „milde Krankheit“, die vorüber geht. Sie sollte einen immer kleineren Raum im Leben der Menschen einnehmen. Stattdessen sollte der Mensch eine Arbeit tun können, die er wirklich, wirklich will. Er unterstützte Menschen, das herauszufinden. New Work steht für ihn für Selbständigkeit, Freiheit und Teilhabe an der Gemeinschaft.

Frederic Laloux hat als Organisationsberater viele Firmen kennengelernt. Er untersuchte, wie Organisationen sich verändern, wenn sich das Bewusstsein in der Gesellschaft weiterentwickelt. Mit der Frage, wie zukünftige Organisationen arbeiten könnten, bereiste und befragte er weltweit 40 Firmen mit mindestens 100 Mitarbeitern – kapitalorientierte Firmen, NGOs und soziale Unternehmen. Er arbeitete drei Prinzipien heraus, die diese Firmen verbanden:

  • Selbstführung – Menschen entscheiden weitgehend eigenständig über ihre tägliche Arbeit, kleine überschaubare Teams agieren ohne Führungskraft, Führungsaufgaben übernehmen Menschen im Team – je nach ihren Fähigkeiten. 
  • Ganzheit – Menschen bringen sich als ganze Wesen ein, nicht mehr nur mit einer professionellen Maske. Das setzt sehr viel Vertrauen im Team voraus, nur dann können sich Menschen wirklich öffnen.
  • Evolutionärer Sinn – Laloux sieht Organisationen als lebendige Organismen. Die Individuen bringen sich mit ihrem eigenen Sinn ein und gemeinsam erspüren sie den Gemeinschaftssinn, der ihre Organisation trägt.

Mit seinem Buch revolutionierte Laloux das Feld der Organisationsentwicklung und inspirierte viele Berater und Führungskräfte.

New Work wird vor allem seit der Corona-Krise synonym benutzt für

  • Arbeitszeitflexibilisierung (Ort und Zeit, Gleitzeit, Jobsharing)
  • Arbeitsortflexibilisierung (Homeoffice, Remote Work)

Das sind Facetten von New Work. Es nur auf die oben genannten Punkte zu reduzieren, greift zu kurz. Ein Schlüssel ist, wie Menschen in einer Organisation zusammenwirken, wie Entscheidungen getroffen werden und wie Verantwortung geteilt wird.

Vor allem die Sinnfrage bewegt viele Menschen. Die Generationen Y und Z gehen mit einem anderen Anspruch an Arbeit und Berufswahl. Arbeit soll Leben sein. Gerade der Sinn an dem, was sie tun, wird zum entscheidenden Motor für oder gegen einen Job.

In der Medizin einen gemeinsamen Sinn zu finden, sollte nicht so schwer sein: Menschen auf ihrem Heilungsweg bestmöglich zu unterstützen. Die Frage ist eher, welche Rolle spielt dieser Sinn im Alltag noch, wenn eine Einrichtung maßgeblich durch ökonomische Kennzahlen geprägt wird oder wenn der Sinn in völlig überproportionalen Dokumentationsvorgaben untergeht, um allen Stakeholdern (MDK, Krankenkassen, Zuweisern, ...) gerecht zu werden.

Und gerade hier liegt die Ursache, dass viele Ärzte und Pflegekräfte das System verlassen. Gegenwärtige Strukturen verursachen in ihnen einen grundlegenden Wertekonflikt, wenn sie nur noch von der Zeit getrieben von einem zum anderen Patienten hasten.

Ist New Work in der Medizin realistisch?

Die Medizin steht vor besonderen Herausforderungen bei der Einführung von "New Work" Konzepten, hauptsächlich weil Medizin zu einem großen Teil direkt am Patienten wirkt. Die Hauptpunkte sind:

  • Patientenversorgung vor Ort: Medizinische Berufe erfordern oft (nicht unbedingt immer) die physische Anwesenheit des Personals für Diagnosen, Behandlungen und Notfälle, was die Flexibilität von Arbeitsort und -zeit einschränkt.
  • Teamkoordination und Kommunikation: In dynamischen Teams, die interdisziplinär zusammenwirken, kann die Einführung flexibler Arbeitszeiten und selbstverwalteter Teams die Koordination und effektive Kommunikation erschweren.

Trotz dieser Herausforderungen gibt es bereits inspirierende Beispiele, die zeigen, dass "New Work" in der Medizin umsetzbar ist.

Hier funktioniert New Work bereits

Die niederländische Pflegeorganisation Buurtzorg

Wie in Deutschland sorgte auch in den Niederlanden die Gemeindeschwester vor Ort für die medizinische Versorgung in der Heimpflege. Das Streben nach Effizienz ließ diese in zentralen Organisationen zusammenfließen. Die Zentralisierung endete mit dem Barcode an der Wohnungstür und im Minutentakt verplanten Pflegekräften.


Jos de Blok war Pfleger. Er hatte versucht, die Strukturen innerhalb der Organisation zu ändern. Weil ihm das nicht gelang, gründete er 2006 Buurtzorg mit 4 Pflegekräften. Diese organisierten sich selbst: von den Dienstplänen über die Entscheidung, was vor Ort zu tun ist bis zum Erstkontakt mit neuen Klienten. Heute arbeiten unter dem Dach von Buurtzorg 10.000 Pflegekräfte und 5.000 Betreuer (Care Workers), also in Summe 15.000 Mitarbeiter in Teams bis zu 12 Menschen, die sich nach wie vor selbst organisieren. Diese Pflegeorganisation dominiert 70% des niederländischen Pflegemarktes.


Buurtzorg war 5-mal bester Arbeitgeber in den Niederlanden. Es gibt mittlerweile Filialen in 35 Ländern.

New Work in Kliniken

Es gibt auch in Deutschland erfolgreiche Kliniken, die nach Prinzipien von New Work arbeiten, wie z.B. die Heiligenfeldkliniken oder die Systeliosklinik. In anderen Kliniken (Agaplesion, RoMed, Klinikum Oldenburg) setzen Pioniere und innovative Führungskräfte viele Prinzipien von New Work bereits um.

Im Februar 2023 eröffnete „Meine Station“ auf einer allgemeinchirurgischen Station im Klinikum Aschaffenburg-Alzenau. Diese Station ist ein gelungenes Beispiel interdisziplinärer selbstorganisierter Zusammenarbeit im Krankenhaus. Die Zusammenarbeit aller wird neugedacht: berufsgruppen- und hierarchieübergreifend.

Vier Monate Vorlaufzeit gab sich das Team, um sich selbst, rollen- und spannungsbasiertes Arbeiten, gewaltfreie Kommunikation und weitere Methoden der Selbstorganisation kennenzulernen, bevor der Betrieb auf der Station startete. Der Fokus der Station liegt auf der interprofessionellen Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe. Es wurden von den Teammitgliedern Tagesabläufe und Strukturen entwickelt , die auf die Bedürfnisse der Belegschaft sowie der Patienten ausgelegt sind. Patienten werden aktiv in ihren Behandlungs- und Heilungsprozess einbezogen.

Diese Beispiele strahlen aus und sind ermutigend für weitere Kliniken, gleichermaßen eigene Erfahrungen mit New Work zu beginnen.

Die Rolle der Führungskräfte und Eigentümer

Eine Schlüsselrolle nimmt die Führung ein. Der Wandel braucht drei Säulen: Impulse und die Begleitung des Wandels durch geeignete Führungskräfte, Pioniere in den Organisationen und eine breite Mitgestaltung aktiver Mitarbeiter.

Es braucht eine andere Art der Führung: Mut machen, (Frei)Raum schaffen für neue Ideen und auch für Fehler. Führung neu zu denken, bedeutet, Menschen über Visionen und den gemeinsamen Sinn einzuladen, zu ermutigen und zu inspirieren – wie es der Hirnforscher Gerald Hüther immer formuliert. Es bedeutet Vorbild zu sein, die Mitarbeiter zu stärken, die Menschen in der Organisation zu vernetzen und sie in ihrem eigenverantwortlichen Handeln zu unterstützen.

In großen Organisationen – wie z.B. einer Klinik - kann New Work ganz klein beginnen in einer einzelnen Abteilung oder Station. Schon allein dort kann erreicht werden, dass sich Arbeit anders anfühlt.

Für einen grundlegenden Wandel, betont Laloux, braucht es den Willen zur Veränderung in der ganzen Organisation – Geschäftsführung und Eigentümer eingeschlossen. Wenn Menschen aus dem Flow heraus arbeiten und dann deutlich produktiver sind – das zeigen viele Beispiele – stellt sich irgendwann bei den Mitarbeitern die Frage, ob das allein dem Shareholder Value dienen soll. Hier lohnt es sich, auch die Frage der Eigentümerschaft von medizinischen Einrichtungen neu zu stellen.

Wie beginnen

Medizinische Einrichtungen sind gefordert, Strukturen und Arbeitsformen nachhaltig zu verändern. Sie können nicht weiter ihre Mitarbeiter – Ärzte und Pflegekräfte auf Verschleiß verplanen. Die zunehmende Komplexität ist mit starren Strukturen immer schwerer beherrschbar.

New Work bedeutet Denkmuster und Paradigmen zu hinterfragen, Strukturen aufzubrechen, Gewohnheiten zu verändern, Prozesse agiler, vernetzter, interdisziplinärer zu gestalten. New Work wird auch häufig im Kontext der Digitalisierung genannt. Es steht für eine Digitalisierung MIT den Menschen.

New Work stellt den Menschen wieder in den Mittelpunkt. Was kann New Work in der Medizin bedeuten?

  • Flachere Strukturen, mehr Eigenverantwortung
  • Entscheidungen werden so patientennah wie möglich getroffen
  • Verlässliche Dienstzeiten und die Freiheit, seine Dienste selbst zu bestimmen
  • Interdisziplinäre Teams um den Patienten herum (Patientenzentrierte Prozesse)
  •  Zusammenarbeit auf Augenhöhe – auch zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen
  • Prozesse MIT den Menschen neugestalten
  • Offene Fehler- und Feedbackkultur
  • Teams mit wirklichem Zusammenhalt
  • Der Mensch wird in seiner Ganzheit gesehen, er erhält in der Einrichtung Raum für Entwicklung

Menschen stimmen mit den Füßen ab

Wie viel Geld investiert eine Einrichtung in Anzeigen und Aufträge an Headhunter, um offene Stellen zu besetzen? Wäre es nicht nachhaltiger, dieses Geld in den Aufbau von Strukturen zu investieren, die die Einrichtung zum Magneten auf dem Arbeitsmarkt werden lässt?

Ich glaube, dass die Zeit zu Ende geht, in der Organisationen Wirtschaftlichkeit durch Druck auf Mitarbeiter erreichen können – insbesondere nicht, wenn der Arbeitsmarkt leergefegt ist. Menschen werden nicht mehr bereit sein, unter kritischen Arbeitsbedingungen zu arbeiten.

Wirtschaftlichkeit entsteht aus dem Flow von Menschen, die mit einer gemeinsamen Vision zusammenkommen.

Wenn Menschen gemeinsam einen Traum träumen und sich zusammenfinden, werden sie Wege finden, diesen zu realisieren. Ich sehe die Prinzipien von New Work als eine große Chance für medizinische Einrichtungen im anstehenden Wandel.

Lasst uns beginnen!

Geschrieben von Anke

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